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Rundbrief August 2012

Ich könnte stattdessen Frieden sehen

Margarethe Randow-Tesch

Der Zenlehrer Kodo Sawaki hat gesagt: »Du musst dich und dein Leben von einem Standpunkt aus betrachten, der vor der Geburt deiner Eltern liegt … Den ersten Schritt musst du von dem Punkt aus unternehmen, der vor der Geburt deiner Eltern liegt«.

Was vielleicht paradox klingt, ist in Wirklichkeit die Aufforderung, unseren gewohnten Bezugsrahmen zu verlassen, der darin besteht, mit den körperlichen Augen auf die Welt zu schauen und ihr Sinn abgewinnen zu wollen. Das ist völlig in Übereinstimmung mit dem, was der Kurs lehrt. Wenn wir wirkliche Veränderungen wollen, nicht nur neue Schatten und Illusionen, müssen wir uns von der Welt und unserer Geschichte als Körper wegbewegen. Wir müssen einen Standpunkt beziehen, bei dem wir uns nicht als Kinder unserer Eltern, als Partner unserer Partner, als Eltern unserer Kinder etc. identifizieren, sondern als etwas völlig anderes: als zeitloses Wesen, das die Wahl hat zwischen Liebe und Angst – jetzt, in diesem Augenblick, in dieser Situation. Keine Eltern, keine Partner, kein Körper, keine anderen, keine Welt!

Das ist der Schritt, der Dreh- und Angelpunkt, mit dem sich nicht nur die Argumentation des Kurses schlagartig erschließt, sondern uns auch unser Leben in einem völlig anderen Licht erscheint: »Ich bin ein zeitloses Wesen, das wählt zwischen Liebe und Angst. Jetzt.« Dieser Schritt muss immer wieder geübt werden, wenn wir dies wollen, tausendmal und mehr am Tag. Das ist der Neubeginn, von dem im 30. Kapitel gesprochen wird und um den die Entscheidungsregeln kreisen. Das ist, was im Kurs »nach innen schauen« oder »über das Schlachtfeld gehen« genannt wird.

Aus dieser Perspektive außerhalb unseres gewohnten Körper-Welt-Systems ist die Situation kein Ablenkungsmanöver mehr. Wir sind einen Schritt zurückgetreten und haben ein neues Verständnis zugelassen: »Mein Leiden hat nicht in der Welt der Zeit gelegen, sondern in der Entscheidung für die Angst jetzt, außerhalb der Zeit.« Das bedeutet auch: »Meine Befreiung liegt nie in weltlichen Errungenschaften, veränderten Umständen oder Menschen, sondern in der Entscheidung, meine Angst mit den Augen der Vergebung (Nichtverurteilung) zu betrachten. Ich könnte stattdessen Frieden sehen.« Nun tut sich eine Entscheidung auf, die wirklich andere Ergebnisse zur Folge hat. Die Situation verliert an Gewicht.

Das heißt es, nach innen – in den Geist – zu gehen und die Antwort außerhalb des Systems zu suchen, das die Sinne zeigen, den »Bezugspunkt jenseits der Illusionen, von dem du auf sie zurückblicken und sehen kannst, dass sie wahnsinnig sind« (T-13.IV.12:9). Ein Kurs in Wundern ist ein solcher Weg nach innen zur Liebe und Vernunft im Geist, repräsentiert vom Heiligen Geist. Deshalb ist es ein Missverständnis, sich für die Anzahl der Kursschüler zu interessieren, den Kurs verbreiten zu wollen oder in seinem Namen »heilige« Rituale abzuhalten in der Erwartung, damit würde eine Besserung eintreten. »Es gibt keine Welt!«, lautet die zentrale Lehre des Kurses (Ü-I.132.6:2). Das heißt: Es gibt keine Kursschüler. Es gibt nur einen Geist, der zwischen Angst und Liebe entscheidet. Dieser Geist steht hinter jedem und allem hier – ständig.

Wenn wir die bekannte Redensart »den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen« auf den Kurs übertragen, könnten wir sagen: »Wir sehen die einfache Wahl vor lauter komplexen Situationen und Problemen nicht« oder »Wir sehen den Geist vor lauter Welt nicht«. Diesem Zweck dient die Welt. Sie soll uns blind halten, manchmal mit »schönen«, manchmal mit »erschreckenden« Ereignissen. Aber sie erlaubt uns nie den Blick über das System hinaus – außer wir begreifen sie als Projektion statt als Fakt. Im Kurs heißt es: »Es ist noch immer wahr, dass nichts außen ist. Doch auf nichts wird alles projiziert« (T-20.VIII.9:7-8).

Der Kurs nimmt für sich in Anspruch, einfach zu sein. Er nimmt für sich in Anspruch, uns wirklich glücklich zu machen. Warum erweist er sich im Alltag dennoch als mühsamer Weg, »oft bereitwilliger ab[getan], als du das Denksystem des Ego abtust?« (T-13.II.7:4). Wer sich in diesem Zusammenhang beobachtet, wird eine interessante Feststellung machen: eine Art »funktionelle Demenz«. Es ist, als würde ein Vorhang auf- und dann wieder zugehen. Wir verstehen einen Augenblick lang auf einer nichtintellektuellen Ebene, worum es geht. Wir spüren, welche Freiheit uns dies eröffnet, wir erleben Frieden unabhängig von der Situation. Wir spüren, dass wir nicht Gefangene des Äußeren sind. Das ist das andere Selbst in uns. Dann schließt sich der Vorhang, und alles ist wieder beim Alten. Das Opfersein, der Ärger, der Groll, die Schuldgefühle, das Kämpfen, die Selbstangriffe kehren zurück. Oder: Wir nehmen uns fest vor, dieses Denken tagsüber anzuwenden, und stellen abends fest, dass wir unser Vorhaben komplett vergessen haben.

Das hat Gründe, und es ist hilfreich, sie zu verstehen: »Bis zu einem gewissen Grad musst du … glauben, dass du dich selber schützt, wenn du den Kurs nicht lernst. Und du begreifst nicht, dass nur deine Schuldlosigkeit dich schützen kann« (T-13.II.7:5-6).

Der Kurs bringt unsere selbstgemachte Identität ins Wanken – das Bild eines getrennten, besonderen psychophysischen Selbst, aus dessen begrenzter Perspektive wir Dinge bis jetzt beurteilt haben. Daher das Aufkommen von Widerstand. Diese Identität erscheint uns wahr und bedeutungsvoll, solange wir die Liebe im Innern zurückweisen und vergessen. Liebe kennt weder Trennung noch Besonderheit. Trennung aber kennt weder Liebe noch Freude, sondern nur Schuld. Nichts und niemand im Äußeren kann die Liebe ersetzen, die wir meinen, im Geist weggeworfen zu haben, und nach der wir uns sehnen. Deshalb heißt es ganz am Anfang des Textbuchs: »Ein Gefühl der Trennung von Gott ist der einzige Mangel, den du wirklich zu berichtigen brauchst« (T-1.VI.1:1, 2:1).

Wie geschieht diese Berichtigung? Der Alltag ist eine große Hilfe zur Selbsterkenntnis. Wir setzen in jeder Situation das Ziel, die Illusion zu verteidigen, oder das Ziel, der Wahrheit Raum zu geben: das Ziel des Angriffs bzw. der Angst oder das Ziel der Vergebung. Das, was wir wählen, erscheint uns wahr und bestimmt unsere Wahrnehmung von Situationen, Dingen und Menschen. Da Urteilen Angst verstärkt, ist es wichtig, über die Angst im Äußeren und Inneren nicht zu urteilen, sondern zu üben, sie als den Ruf nach Heilung zu sehen, der sie in Wirklichkeit ist. Und so können wir uns immer wieder still klarmachen: »Ich könnte stattdessen Frieden sehen …Geistesfrieden ist eindeutig eine innere Angelegenheit. Er muss bei [m]einen eigenen Gedanken beginnen und sich dann nach außen ausdehnen« (Ü-I.34.1:2-3).

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