Studium EKIW ®

Rundbrief August 2018

Der Neubeginn

Margarethe Randow-Tesch

Eine wunderbare kleine Geschichte mit dem Titel Der Eremit aus dem gleichnamigen kleinen Band mit Zen-Erzählungen (Theseus-Verlag 1989) handelt von einem Menschen, der sich sein Leben lang nach Meditation und innerer Stille sehnt, aber im Äußeren stattdessen mit dem genauen Gegenteil konfrontiert wird: einer großen, lauten Familie und so viel Arbeit, bis ihm schließlich überhaupt keine Zeit mehr für sich selbst bleibt. Als seine Bedrängnis ihren Höhepunkt erreicht, findet ein unerwarteter Umschlag statt: »Durch die Erfordernisse der Umstände «, so erklärt er seinem Gesprächspartner, »wurden die letzten Spuren meines Privatlebens [sprich: des Ego] ausgewischt.« Statt Verzweiflung erlebt er innere Befreiung und eine heitere Gelassenheit, obwohl er in der Situation bleibt. Diesen Neubeginn drückt er mit einer Bemerkung aus, die auf den ersten Blick paradox erscheint: »Als meine ganze Zeit ausgefüllt war, ging ich weg, und jetzt lebe ich allein im Schoß meiner Familie und im Lärm des Marktes.« Sein Entschluss, wegzugehen und Eremit zu werden, besteht darin, dass er das Denken der Besonderheit verlässt und nun ohne Angstprojektionen [»allein«] mit sich und seiner Familie lebt. Alles ist beim Alten geblieben, und doch ist alles qualitativ neu. Die Außenwelt, so die Aussage der Geschichte, hat ihre Macht über ihn verloren.

Wer würde sich das nicht wünschen? Es ist jederzeit möglich, heißt es im Kurs (T-2.I.3:3-4), aber es erfordert eine umfassende Bereitwilligkeit, die wir vermutlich noch nicht entwickelt haben und die darin besteht, sämtliche Urteile und jede Rechthaberei aufzugeben und nur noch auf die Wahrheit zu hören (T-2.VI.6). Dieser innere Zustand des unerschütterlichen Friedens, der auf Nichturteilen beruht, wird im Kurs als die wirkliche Welt bezeichnet. Der Weg dorthin ist ein Prozess mit Höhen und Tiefen, in dem unsere kleine Ichzentriertheit an ihre Grenzen gerät, während das Vertrauen zu dem großen Ich hinter dem Ich, zu Jesus oder dem Heiligen Geist, wächst, einer Weisheit, die uns beisteht und in unserer Not tröstet.

Gewöhnlich versuchen wir Gefühlen von Angst, Frustration oder Unsicherheit dadurch entgegenzuwirken, dass wir das Äußere kontrollieren wollen. Wenn dies doch anders wäre, seufzen wir ein um das andere Mal. Wir schauen nicht tiefer. Je unsicherer wir uns fühlen, desto mehr Kontrolle streben wir an. Doch unser Leben lässt sich nur bedingt kontrollieren. Der nächste Kampf wartet potenziell; die Verschnaufpause ist immer nur eine vorübergehende. Irgendwo wissen wir, dass sich die Erwartung, das Leben im Äußeren lasse sich in einen Hort des Glücks, der Sicherheit, Gerechtigkeit oder Vernunft verwandeln, am Ende nicht erfüllen wird.

Im Kurs wird gesagt, dass wir einen inneren Neubeginn brauchen – einfach deshalb, weil die Unvernunft innen ist, im Geiste aller Wesen, die letztlich ein einziges sind, versteckt hinter den äußeren Erscheinungen. Unter einem Neubeginn wird im Kurs das bewusste Weggehen aus der Welt des Ego verstanden. Das ist kein äußerer Akt, es ist auch keine Abkehr von der Außenwelt als solcher, sondern von unseren Projektionen auf die Außenwelt: nämlich dass sie die Macht hat, uns unsere Gefühle zu diktieren.

Dafür müssen wir uns an das erinnern, was wir im Alltag nur allzu gern vergessen: welche enorme Macht unserer Entscheidung für oder gegen das Ego innewohnt: »Wenn du so sein willst wie ich [Jesus, das Symbol im Kurs für die Vernunft des Geistes] so werde ich dir helfen, in der Erkenntnis, dass wir gleich sind. Wenn du anders sein willst, werde ich warten, bis du anderen Geistes geworden bist. Ich kann dich lehren, aber nur du kannst beschließen, auf meine Lehre zu hören« (T-8.IV.6:3-5). Die Motivation und Entschlossenheit zu hören sind erst vorhanden, nachdem wir die Lehre des Ego – Konflikt, Schuld, Angriff und Projektion – gründlich begriffen und satt haben, weil sie uns selber verletzt.

Der Neubeginn ist die tägliche Übungspraxis, die uns von angstbesetzten »Träumen des Urteilens zu den glücklichen Träumen der Vergebung führ[t]« (T-30.Einl.1:2). Träume des Urteilens – sprich: unser gewöhnlicher Geisteszustand in der Welt mit den daraus folgenden Reaktionen – basieren auf Unwissenheit; d. h. wir vertrauen auf das, was unsere Sinne uns als Problem oder als Lösung zeigen. Träume der Vergebung oder des Nichturteilens basieren nicht auf den Sinnesdaten, mit denen wir tagtäglich überschüttet werden, sondern auf einer Vernunft, die in uns, aber nicht von uns ist, »einer Arche der Sicherheit, die auf dem Versprechen Gottes ruht, dass sein Sohn auf ewig in ihm selber sicher ist« (T-28.VII.7:5). Diese ruhige Mitte des Geistes, die jeden und alles willkommen heißt, ist die einzige Sicherheit in einer unsicheren Welt. Sie ist noch nicht die Wahrheit selbst, aber sie spiegelt Wahrheitserkenntnis in einer für uns verständlichen Form.

Die Welt des Ego, die wir verlassen wollen, um neu zu beginnen, ist eine Wüste der Schuld – im Innern. Ohne dieses Verständnis wird es uns an Motivation und an Richtung mangeln.

Der Glaube an Schuld wiederum wird durch Projektionen aufrechterhalten und verstärkt. Daher hat der anklagende Zeigefinger auf andere, der im Kurs mit den Begriffen Groll oder Angriffsgedanken umrissen wird, einen hohen Preis (wie gerechtfertigt dieser Groll in der Welt auch erscheint). Er macht uns blind gegen die Vernunft. Stattdessen macht er das Schulddenken im Innern wahr und treibt uns in die Verzweiflung eines ebenso negativen wie falschen Selbstbildes. Das zwingt uns anschließend zu weiteren Projektionen. Weil wir projizieren, machen uns die Projektionen anderer Angst, sodass wir sie subjektiv als Feinde statt als angsterfüllte Mitwesen erleben. Deshalb heißt es im Kurs, wir sollten als unsere eigenen Lehrer zurücktreten und Jesus unseren Lehrer der Wahrheit sein lassen. Er lehrt uns, uns von Erscheinungen nicht ängstigen zu lassen, sondern über sie hinauszuschauen, und allen Fehlschlägen zum Trotz nicht den Mut zu verlieren. Mit einer scherzhaften Bemerkung von Woody Allen gesprochen: »Falls dieser Teppich eine Illusion ist, habe ich definitiv zu viel dafür bezahlt.« Welche bessere Verwendung für das Leben hier könnte es geben, als das zu lernen?

Geführt vom freundlichen Licht der Vernunft, verstehen wir wie der Eremit in der Zen-Geschichte, dass das Wirkliche im Innern vom Äußeren nicht bedroht werden kann, und dass das Unwirkliche im Innern, das uns scheinbar in einen Zustand des Konflikts katapultiert, nur bedeutungslose Träume spiegelt: »Es gibt keine Zeit, keinen Ort und keinen Zustand, von denen Gott abwesend ist. Es gibt nichts zu fürchten« (T-29.I.1:1-2).

DruckversionSeitenanfang ↑

Copyright © Greuthof Verlag und Vertrieb GmbH | Impressum | Datenschutzerklärung