Studium EKIW ®

Rundbrief Januar 2016

Magie und Religion

Margarethe Randow-Tesch

Die Ursprünge der Religion liegen im Dunkeln. Aber sicher ist, dass schon den frühesten Kulturen Bestattungsriten und kultische Handlungen zu Eigen waren, die darauf hindeuten, dass archaische Religionen Magie waren: der Versuch, auf Naturkräfte einzuwirken, die sich als mächtig und unberechenbar erwiesen und den Naturvölkern als Geistwesen erschienen. Wenn wir solche Vorstellungen heute auch belächeln, so haben doch Züge dieses magischen Denkens in der sehr viel späteren Entwicklung der monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – überlebt: in Form des Gottesbildes von einem unergründlichen Schöpfer der sichtbaren Welt, den man in Form von Ritualen, Gebeten und einer bestimmten Lebensführung gnädig stimmen muss. Spätestens seit der Philosophie der Aufklärung und dem Siegeszug des naturwissenschaftlichen Denkens im 19. Jahrhundert tut man sich im Westen immer schwerer mit den Widersprüchen, die dieser Auffassung von einem Schöpfergott, der über der Welt thront, innewohnt und als Folge davon mit Religion: »Opium fürs Volk«, wie Karl Marx es im 19. Jahrhundert provokant mit Blick auf die Missstände in der Gesellschaft formulierte, oder eine infantile Reaktion auf die menschliche Hilflosigkeit, wie Sigmund Freud 1927 in Die Zukunft einer Illusion aus psychologischer Sicht sagte.

Meiner Ansicht nach liegt diesen Aussagen eine ganz typische und weit verbreitete Verwechselung von Magie und Religion zugrunde. Eine in dieser Hinsicht aufschlussreiche Definition im Kurs besagt: »Alle Magie ist ein Versuch, das Unvereinbare miteinander zu vereinbaren. Alle Religion ist die Einsicht, dass das Unvereinbare nicht vereinbart werden kann« (T-10.IV.1:1-2). Einfach ausgedrückt: Gott und Welt haben nichts miteinander zu tun.

Wenn wir aus der Sicht des Kurses versuchen würden zu definieren, was Religion ist, könnten wir vielleicht sagen, sie ziele darauf ab, die Hindernisse zu beseitigen, die die Erfahrung einer Dimension tiefer innerer Verbundenheit in uns verborgen halten. Um einen Satz des indischen Lehrers Krishnamurti zu zitieren: »Denn ohne den Duft der Wirklichkeit ist unser Leben seicht, materialistisch und elend, voller Spannungen und Kämpfe, Schmerz und Leid« (Religiöse Erneuerung, Knaur, S.11).

Im Kurs heißt es über die Wirklichkeit: »Einssein ist einfach die Idee: Gott ist ... Da ... ist kein Teil des Geistes, der sich genügend unterscheiden würde, um zu verspüren, dass ihm jetzt etwas bewusst ist, was nicht er selber ist ... « (Ü-I.169.5:1,5). Das steht im Gegensatz zur Magie, bei der wir »um Schutz für den kleinen Traum [bitten], den [wir] gemacht ha[ben]« (Ü-I.131.2:7). Magie mit ihren Regelwerken, Zugehörigkeiten, Ritualen und Gewissheiten schirmt die Innenwelt des Ego wirksam ab; sie dient der Erhaltung der Abgrenzung und einer zwanghaften Abwehr von existentieller Angst. Kurz: Magie zieht die Wirklichkeit in die Illusion; Religion bringt die Illusion zur Wirklichkeit, wo sie berichtigt wird.

So ist Religion nicht an eine Form gebunden; sie ist großzügig, offen und weit. Wie Wasser nimmt sie vorübergehend eine Form an, aber sie geht weit darüber hinaus. Sie äußert sich in Selbstreflexion, denn ohne Bewusstheit findet keine Verwandlung statt. Natürlich können wir nirgendwo anders beginnen als mit dem »kleinen Traum«, den wir unser Leben nennen, um seinen Zweck allmählich zu verstehen und zu verwandeln: von der Blindheit und Begrenzung, die uns unser unbewusstes magisches Schulddenken auferlegt, über die tiefe Einsicht in das Ausmaß dieser Blindheit, hin zur Weite des Nichturteilens, die aus der Freiheit der wahren ichlosen Wesensnatur fließt. Dieser Befreiungsprozess – jenseits von Status, Formen, Systemen und Ritualen der Welt – ist ein religiöser Akt, der im Kurs Vergebung genannt wird und das Einzige, was uns je glücklich machen kann. Im Lied des Gebets in den Ergänzungen zu Ein Kurs in Wundern wird für die Vergebung das Bild einer Leiter verwendet. Die Leiter steht symbolisch für die Entwicklung unseres Verständnisses von uns und von anderen, von : Gott und der Welt – beginnend mit den magischen Anfängen bis hin zum Zustand der Vollendung, in dem der Gedanke des Unterschieds bedeutungslos geworden ist.

In der Tat ist Religiosität auf einer ersten Stufe zwangsläufig Magie und an einen magischen Gott gerichtet. Eine Geistesverfassung, die auf dem Gedanken eines getrennten, besonderen und verletzlichen Ich beruht, ist ja bereits selber Magie: ein illusionärer Zustand, wie wahr er uns auch erscheinen mag. Dasselbe gilt auch für die Welt, in der dieses Ich existiert. In Abwandlung von Marx und Freud ließe sich daher etwas provokant sagen: »Die Welt ist das Opium bzw. die infantile Reaktion auf die Hilflosigkeit des in Trennungsillusionen befangenen Geistes.«

Nicht an der Welt als Ort, sondern an ihrem Verwendungszweck müssen wir ansetzen. Hier ist die Veränderung vonnöten: von der Schmerzbetäubung und Ablenkung, denen die Beziehungen zu Menschen, Dingen, Substanzen und Ritualen dienen können, hin zu wertvollen Einblicken in die eigene Gedankenwelt, die wir anhand unserer Reaktionen auf die Außenwelt gewinnen.

Die Wirklichkeit kann nie völlig in Vergessenheit geraten und klingt als feine, leise Melodie immer wieder im Geist auf, so wie sie es seit Urzeiten getan hat und weiter tun wird. Wenn sich das Gehör für diese Töne entwickelt, sehen wir den flüchtigen, magischen Traum der Besonderheit, den wir alle hier träumen, mit größerer Distanz und Milde. Statt zum Urteilen wird er zum Mittel, wahre Weisheit und Freiheit des Geistes zu finden.

Was bedeutet das oben Gesagte für das Verständnis des Kurses und damit für die Alltagspraxis? Dass es um gelassene Selbsterforschung, Bewusstheit und Vergebung geht. Nicht ritualistische Wiederholungen der 365 Lektionen, nicht die Beherrschung der eindrucksvollen Metaphysik, nicht die Bildung von Kursgruppen überall auf der Welt bewirken etwas Wesentliches. Das alles gehört ins Reich der Form und des Verhaltens. Das Geheimnis des wahren Kurses – wie jeder echten Religion – ist seine Melodie, die formlos und ewig ist. Wie Kenneth Wapnick am Ende seines Lebens unermüdlich wiederholte, ist der Kurs kein Buch, sondern eine Geisteshaltung, zu der wir hinwachsen, das Lied des Selbst, das in allen klingt, formlos, still und unbeschreiblich schön. »Es ist das Lied, welches die Gabe ist. Mit ihm zugleich kommen die Obertöne, Harmonien und Echos, aber diese sind zweitrangig. Im wahren Gebet hörst du nur das Lied ... Du hast zuerst nach dem Himmelreich gesucht, und alles andere ist dir fürwahr gegeben worden« (L-1.I.3:2-6).

DruckversionSeitenanfang ↑

Copyright © Greuthof Verlag und Vertrieb GmbH | Impressum | Datenschutzerklärung